Landkarte der Āsanas

Diese Landkarte der Asanas lädt ein, Yoga nicht nur als Abfolge von Körperhaltungen zu sehen, sondern als einen Weg der Bewusstwerdung.
Jede Kategorie öffnet eine andere Tür: von der Stabilität des Sitzes über das instinktive Wissen der Tiere, die Klarheit der Naturformen, die Symbolkraft von Weisen, Helden und Göttern bis hin zu Loslassen, Stille und Zeit.
Die Namen und Formen sind keine Dogmen, sondern Wegweiser — sie führen von Bewegung zu Empfindung, von Empfindung zu Erkenntnis. So wird Üben zu einem Prozess, in dem Körper, Atem, Nervensystem und Bewusstsein sich gegenseitig verfeinern.

Landkarte der Asanas als PDF


1. Sitzhaltungen
Meditation · Prāṇāyāma · Samādhi
KategorieBeispiele (klassisch)Bedeutung / SymbolikErweiterungen
SitzhaltungenPadmāsana, Siddhāsana, Svastikāsana, SukhasanaStabilität (sthira) und Beweglichkeit (sukha); Grundlage für Meditation, Balance von Erdung und DurchlässigkeitVariationen: Ardha Padmāsana, meditative Vorübungen; Sitzen als Essenz aller Āsanas

Kommentar / Vertiefung
Die Sitzhaltungen sind nicht nur Ausgangspunkte für Prāṇāyāma und Meditation, sondern eigenständige Asanas, in denen sich alle Bewegungsrichtungen – Vorbeuge, Rückbeuge, Seitneigung, Drehung und Aufrichtung – subtil vereinen können.
Sie entstehen aus der fortschreitenden Praxis: Erst wenn der Körper geschmeidig, das Nervensystem ausgeglichen und der Atem frei geworden ist, offenbart sich die Leichtigkeit des Sitzens.

Das Sitzen wird damit zu einer Essenz der gesamten Asana-Praxis – nicht als statischer Endpunkt, sondern als Raum, in dem sich Erfahrung verdichtet und integriert.
Wie Tādāsana im Stehen Orientierung gibt und nach jeder Haltung zur inneren Rückkehr einlädt, so spiegelt der Sitz die Summe der gemachten Erfahrungen. Auch in Umkehrhaltungen wie Śīrṣāsana zeigt sich dieses Prinzip des zyklischen Lernens: jede Variante verändert die Wahrnehmung und führt zurück zu einem verfeinerten Gleichgewicht.

Im Hatha Yoga bildet die Sitzhaltung die Grundlage für Energiearbeit, im Rāja Yoga die Verankerung der Bewusstheit.
Stabilität und Beweglichkeit führen hier zu jener Elastizität und Klarheit, in der Meditation natürlich entstehen kann.


2. Tiergestalten
Instinkt · Naturverbundenheit
KategorieBeispiele (klassisch)Bedeutung / SymbolikErweiterungen
TiergestaltenMatsyāsana, Kukkuṭāsana, Bhujangāsana, Kurmāsana, GaruḍāsanaErinnerung an instinktive Ausgleichsbewegungen und gemeinsame Natur mit TierenNeue Tierformen: Bhekāsana, Gōmukhāsana, Śalabhāsana

Kommentar / Vertiefung
Die Tiergestalten sind mehr als Nachahmungen. Sie sind ein Rückruf an die vergessene Natürlichkeit des menschlichen Körpers.
Tiere bewegen sich im Einklang mit ihren Bedürfnissen – sie strecken sich, wenn Spannung entsteht, sie ruhen, wenn Erschöpfung eintritt. Ihre Bewegungen sind Antworten auf innere Signale, nicht auf äußere Ziele.

Der Mensch teilt mit vielen Tieren die Wirbelsäule, den Atemrhythmus, die Bewegung durch Raum und Schwerkraft. In den Asanas können wir diese geteilte Anatomie wieder spüren: die Katze, die sich dehnt, um Gleichgewicht zu finden; der Hund, der durch Streckung seine Wirbelsäule harmonisiert; die Schildkröte, die sich nach innen wendet, um Schutz zu finden.

Auch jene Lebewesen, die keine „Yogahaltungen“ tragen – wie Qualle oder Oktopus – erinnern uns an die fließenden, rhythmischen Schwingungen des Lebens. Die Bewegungen des Zwerchfells, die osteopathisch als zentrale Schwingung betrachtet werden, stehen in Resonanz mit dieser Fluidität. Der Atem wird zum Meer, in dem alle Bewegungen zusammenlaufen.

In der Praxis bedeutet das: Die Tiergestalten lehren den Menschen, von innen her zu antworten, nicht von außen zu reagieren.
Sie führen uns vom kulturell konditionierten Bewegungsmuster zurück zu einer verkörperten Intelligenz, die jenseits des Willens liegt – eine Form von Bewusstsein, die sich über die Wahrnehmung entfaltet.

So werden die Tiergestalten zu Brücken zwischen Kultur und Natur, zwischen Denken und Empfinden, zwischen Mensch und Lebewesen.


3. Objekte & Dinge
Werkzeug · Resonanzraum
KategorieBeispiele (klassisch)Bedeutung / SymbolikErweiterungen
Objekte & DingeDaṇḍāsana, Cakrāsana, Mayūrāsana, NavāsanaKörper als Werkzeug und Resonanzraum; Begegnung von Subjekt und Objekt (Sāṅkhya)Parighāsana, Setu Bandhāsana – Übergangs- und Integrationsformen

Kommentar / Vertiefung
Die Asanas dieser Kategorie führen den Übenden in eine bewusste Begegnung mit der Objektebene – jener Schicht, in der die Welt Form, Funktion und Widerstand zeigt.
Wie die Sāṅkhya-Philosophie lehrt, entsteht Bewusstsein durch die Gegenüberstellung von Subjekt (puruṣa) und Objekt (prakṛti).
Im Yoga wird diese Gegenüberstellung nicht aufgehoben, sondern verfeinert: das Objekt wird zur Erfahrung, durch die sich Bewusstsein selbst erkennt.

Wenn wir in Daṇḍāsana wie ein Stab sitzen, richtet sich das Bewusstsein an der klaren Form aus.
In Cakrāsana, dem Rad, spüren wir die Bewegung der Energie, die gleichzeitig nach außen öffnet und ins Zentrum zurückführt.
Navāsana hält uns im Spannungsfeld von Stabilität und Schwingung – das Boot wird zum Symbol des Übergangs, das uns über die Wellen der Sinneseindrücke trägt.

So wird der Körper zum Ort der Erkenntnis:
Das, was wir „Ding“ nennen, ist keine Trennung vom Bewusstsein, sondern eine Spiegelung davon.
Indem wir mit diesen Formen üben, lernen wir, das Objekt nicht als Fremdes, sondern als Ausdruck derselben Wurzel zu erfahren, aus der auch das Subjekt entsteht.

Krishnamacharya und seine Schüler erweiterten diesen Gedanken, indem sie Brücken und Tore als Asanas einführten – nicht nur architektonische, sondern bewusstseinsbildende Formen. Sie zeigen, dass die Objektebene keine Grenze ist, sondern eine Schwelle zwischen Körper und Bewusstsein, Form und Freiheit.


4. Naturformen
Verwurzelung · Aufrichtung · Weite
KategorieBeispiele (klassisch)Bedeutung / SymbolikErweiterungen
NaturformenVṛkṣāsana (Baum), Tādāsana (Berg), Utthita Trikoṇāsana (ausgedehntes Dreieck), Adho Mukha Vṛkṣāsana (Handstand)Naturgesetze: Verwurzelung, Aufrichtung, Ausdehnung, Gleichgewicht; Teilhabe am KosmosRichtungs- und Perspektivwechsel (Parivṛtta, Adho Mukha)

Kommentar / Vertiefung

Die Asanas der Naturformen bringen uns in Resonanz mit den Grundprinzipien des Lebens: Verwurzeln, Wachsen, Atmen, sich dem Raum öffnen.
Sie lassen uns spüren, dass jedes Lebewesen – Pflanze, Tier oder Mensch – denselben Gesetzen folgt, nur in unterschiedlicher Gestalt.

Vṛkṣāsana (Baum) steht für das Aufsteigen des Lebens aus der Erde. Der Mensch teilt mit dem Baum die Elemente und lebt in wechselseitiger Atmung mit ihm – das eine Wesen gibt, was das andere empfängt.

Tādāsana (Berg) ist die stille Mitte der stehenden Haltung – ein Moment der Sammlung, in dem die Schwerkraft nicht Last, sondern Orientierung ist.

Utthita Trikoṇāsana (ausgedehntes Dreieck) verkörpert das Prinzip der Beziehung und Ausdehnung.
Das tri steht für die drei Dimensionen des Raumes, für die Guṇas, für Klangrichtungen – außen, innen, Mitte.
Utthita bringt die Haltung zum Leben: es ist die Kraft, die den Raum spürbar macht.
So wird das Dreieck zur Erfahrung von Weite und Bewusstheit – eine Form, die nicht gedacht, sondern durch Wahrnehmung erfahren wird.

In Adho Mukha Vṛkṣāsana kehrt der Mensch in eine Perspektive zurück, die für Vierbeiner die natürliche ist – das Herz dem Boden zugewandt, die Wahrnehmung erdnah.
Der Handstand erinnert an diese ursprüngliche Orientierung: nicht Umkehrung, sondern Erinnerung.
So wie das Pferd aus der Vorhand die Levade entwickelt, hebt sich auch im Menschen die bewusste Aufrichtung aus der instinktiven Bewegung.

Philosophische Notiz:
Das Prinzip tri verweist auf die verborgene Ordnung hinter allen Formen – das Spannungsfeld von Raum, Energie und Bewusstsein.
Jede Haltung, die aus drei Punkten besteht, trägt das Potenzial der Harmonie in sich: Sie verbindet Stabilität und Wandel, Klang und Stille, Erde und Himmel.
In dieser Dreigliedrigkeit schwingt das Ganze – sichtbar, hörbar, spürbar.


5. Elemente
Erde · Wasser · Feuer · Luft · Raum
KategorieBeispiele (klassisch)Bedeutung / SymbolikErweiterungen
ElementePṛthvī (Erde), Āpas (Wasser), Agni (Feuer), Vāyu (Luft), Ākāśa (Raum)Grundprinzipien der Natur im Körper spüren; Aufbau von Stabilität, Fluss, Energie, Leichtigkeit, WeiteFeine Atem- und Bewusstseinslenkung, Integration in die Āsanapraxis

Vertiefung / Erfahrungsweg

Die fünf Elemente bilden den unsichtbaren Körper der Asanas.
Sie sind keine festen Substanzen, sondern Bewegungsqualitäten, die sich im Üben offenbaren.
Wenn wir sie berühren, betreten wir die gemeinsame Ebene von Natur und Bewusstsein – die Zone, in der Samkhya und Yoga zusammenfinden.

  • Pṛthvī – Erde (Stabilität, Gewicht, Halt)
    In der Haltung wird sie spürbar, wenn die Füße oder Sitzknochen Kontakt aufnehmen und der Körper Antwort erhält.
    Tādāsana ist Erdung in ihrer klarsten Form: das Bewusstsein ruht im Gleichgewicht, der Boden trägt uns.
  • Āpas – Wasser (Fließen, Anpassung, Durchlässigkeit)
    Sie zeigt sich im Atem, in der Beweglichkeit der Gelenke, in der Fähigkeit, Spannung in Bewegung zu verwandeln.
    In Paścimottānāsana etwa gleitet der Atem wie eine Welle durch den Rücken – Verbindung statt Kontrolle.
  • Agni – Feuer (Energie, Transformation, Richtung)
    Es ist das Element des Handelns und der Bewusstwerdung.
    In den Standhaltungen lodert es als Präsenz, im Prāṇāyāma als klärende Kraft. Agni verwandelt Trägheit in Licht.
  • Vāyu – Luft (Bewegung, Leichtigkeit, Ausdehnung)
    Sie zeigt sich im Schweben zwischen Ein- und Ausatmung, in der feinen Resonanz zwischen Gliedmaßen und Raum.
    In Utthita Trikoṇāsana etwa ist Vāyu der Atem, der die Form öffnet und den Körper in Schwingung versetzt.
  • Ākāśa – Raum (Weite, Resonanz, Bewusstheit)
    Es ist nicht das, was bleibt, wenn alles andere verschwindet, sondern das, worin alles geschieht.
    In der Stille nach der Bewegung erscheint Ākāśa als Klarheit, die sich nicht denken lässt – nur erfahren.

Philosophische Notiz

Die Elemente sind nicht getrennt voneinander, sie bilden ein Kontinuum.
Im Üben treten sie in Beziehung – Erde trägt Wasser, Feuer verwandelt, Luft bewegt, Raum umschließt.
So entsteht ein Gleichgewicht, das nicht statisch ist, sondern elastisch und bewusst – wie sthira sukham āsanam.
Die Haltung wird dann zu einem Erfahrungsfeld, in dem sich Natur und Geist wechselseitig erkennen.

Im Kontakt mit den Elementen erkennt der Mensch sich selbst als Teil des Ganzen.
Er ist kein Beobachter der Natur, sondern ihr Spiegel.


6. Weisen & Seher
Hören · Erkenntnis
KategorieBeispiele (klassisch)Bedeutung / SymbolikErweiterungen
Weisen & SeherMatsyendrāsana, Vasiṣṭhāsana, Bhāradvājāsana, KauṇḍinyāsanaInnere Schau, Hören und Erkenntnis; Ursprünge des YogaErweiterung in mythische Figuren wie Hanumānāsana, Viśvāmitrāsana

Vertiefung / Erfahrungsweg

Die Asanas der Weisen sind Gesten des Erwachens.
Sie erinnern an jene, die in tiefer Versenkung – dhyāna – zu sehendem Wissen gelangten.
Wenn wir eine dieser Haltungen einnehmen, treten wir symbolisch in ihr Erleben ein:
nicht als Nachahmung, sondern als Wiedererinnerung an die Fähigkeit, innerlich zu schauen.

  • Matsyendrāsana – der Sitz des Herrn der Fische
    Ursprung vieler Drehhaltungen.
    Matsyendra soll aus der Tiefe des Ozeans das geheime Wissen des Hatha Yoga empfangen haben –
    das Bild dafür, dass Erkenntnis aus der Tiefe des Unbewussten aufsteigt.
    In der Drehung wird der Körper zum Kanal: Vorderseite und Rückseite begegnen sich,
    das Innere spricht mit dem Äußeren.
  • Vasiṣṭhāsana – der Weise der inneren Kraft
    Symbol für Gleichgewicht im Tun.
    Vasiṣṭha ist der Lehrer Rāmas – Sinnbild der Verbindung von Spiritualität und Handlung.
    In der seitlichen Stützhaltung erwacht eine stille Stabilität – das „Gleichgewicht des Handelnden“,
    der nicht mehr kämpft, sondern in der Handlung ruht.
  • Bhāradvājāsana – die Haltung des Sammlers von Wissen
    Diese sanfte Drehhaltung erinnert an den meditativen Rückzug nach innen.
    Bhāradvāja war ein Sammler heiliger Gesänge;
    die Haltung sammelt das Bewusstsein im Zentrum und lässt Erkenntnis still aufsteigen.
  • Kauṇḍinyāsana – die Haltung des kompromisslosen Blicks
    Ausdruck von Klarheit und Kraft.
    Der Weise Kauṇḍinya erkannte nach innerem Ringen den mittleren Weg –
    so wie im Üben Balance entsteht zwischen Spannung und Loslassen.

Philosophische Notiz

Die Weisen verkörpern das Prinzip der inneren Schau (dṛṣṭi).
Ihre Asanas sind weniger körperliche Formen als vielmehr Bewusstseinsrichtungen.
In ihnen wird sichtbar, dass āsana nicht nur Haltung des Körpers,
sondern auch Haltung des Geistes ist –
ein stilles Lauschen auf das, was sich in uns offenbart.

Im Rishi-Asana begegnen wir der inneren Lehrerin, dem inneren Lehrer.
Die Haltung erinnert uns daran, dass Wissen nicht erdacht, sondern gehört wird.


7. Göttliche Gestalten & Helden
Mut · Hingabe · Tanz
KategorieBeispiele (klassisch)Bedeutung / SymbolikErweiterungen
Göttliche Gestalten & HeldenHanumānāsana, Natarājāsana, AnjaneyāsanaArchetypen von Mut, Hingabe, kosmischem TanzVīrabhadrāsana I–III, Ekapāda Rājakapotāsana, Bhairavāsana

Vertiefung / Erfahrungsweg

Die Göttlichen Gestalten und Helden führen das Üben aus dem stillen Hören der Weisen in die belebende Kraft des Mythos.
Sie verkörpern Qualitäten, die im Menschen schlummern: Mut, Weite, Hingabe, Transformation.

Hanumānāsana – die große Überschreitung
Hanumān, der Affengeneral, sprang aus Liebe und Hingabe über den Ozean zu Rāma.
Die Haltung ist eine tiefe Dehnung und ein Akt des Vertrauens: das Herz führt weiter als die Angst, der Sprung ist größer als das Ego.

Natarājāsana – der kosmische Tanz
Śiva als Tänzer, der Welten erschafft und auflöst.
Die Haltung fordert Balance, Öffnung und zugleich tiefe Sammlung.
Im Tanz des Gottes schwingt die Erfahrung, dass Bewegung und Stille eins sind.

Anjaneyāsana – die Geste der Demut und des Aufbruchs
Benannt nach Hanumans Vater Anjaneya.
Ein tiefer Ausfallschritt mit erhobenen Armen – Hingabe nach oben, Verwurzelung nach unten.

Vīrabhadrāsana – die Kriegerhaltungen
Vom Mythos des Shiva-Kriegers Vīrabhadra inspiriert.
Sie lehren Präsenz und gerichtete Energie ohne Aggression – bewusste Standhaftigkeit.

Hier geschieht etwas Neues: Die Praxis bekommt Herz und Geschichte.
Die Haltung erzählt nicht nur von Muskeln und Gelenken, sondern von menschlicher Sehnsucht, Hingabe, Kraft und Dienst.

Philosophische Notiz

Die Götter und Helden im Yoga sind Archetypen der inneren Reise.
Sie verweisen nicht auf äußere Verehrung, sondern auf innere Qualitäten, die durch Übung aktiviert werden:

Hingabe, die Hindernisse überwindet (Hanumān).

Bewusstes Handeln und Schutz (Vīrabhadra).

Tanz als Einheit von Schöpfung und Auflösung (Natarāja).

Wenn wir diese Haltungen üben, treten wir nicht in eine fremde Religion ein, sondern in eine universelle Mythologie, die unsere eigene Seele bewegt.
Es ist eine Weise, die Energie zu personifizieren, damit wir sie erkennen, annehmen und in Bewusstsein verwandeln können.

Der Mythos belebt die Praxis — er macht die Haltung seelisch erfahrbar.
Aus Wissen wird Beziehung, aus Beziehung wird Hingabe.


8. Körperteile & Funktionsorientierte Namen
Präzision · Beziehung
KategorieBeispiele (klassisch)Bedeutung / SymbolikErweiterungen
Körperteile & FunktionPaścimottānāsana, Jānuśīrṣāsana, Baddha Koṇāsana, Śīrṣāsana, SarvāṅgāsanaPräzise Anweisung und zugleich Frage an die Wahrnehmung: Ausgleich, Beziehung, RaumZusätze wie Supta, Utthita, Parivṛtta für differenzierte Varianten

Vertiefung / Erfahrungsweg

Diese Asanas sprechen die konkreteste Ebene des Übens an:
der Körper als Instrument, das sich ausrichten, verlängern, öffnen, stabilisieren kann.
Hier ist der Name oft Beschreibung und Anleitung zugleich – und gleichzeitig eine Einladung zum Fragen.

Paścimottānāsana: „Dehnung der Westseite“ – meint nicht nur den Rücken zu öffnen. Erst wenn die Vorderseite (pūrva) Raum erhält, kann die Rückseite loslassen und wirklich erfahren werden.

Parśvottānāsana / Purvottānāsana: Seitliche und vordere Ausdehnungen verweisen immer auf ihr Gegenstück. Jede Ausrichtung ist Beziehung.

Jānuśīrṣāsana: „Knie-Kopf“ – welches Knie, welche Drehung, wie steht es im Raum? Die Haltung fragt und lenkt die Aufmerksamkeit von einem Punkt in den ganzen Körper.

Baddha Koṇāsana: Benennt den gebundenen Winkel, doch lädt ein, auch Hüfte, Beckenboden, Rücken und Atem mitzudenken.

Diese Ebene hilft Anfänger:innen, Orientierung zu finden und den Körper intelligent zu nutzen. Sie spricht das Handwerkliche des Übens an: Wie richte ich mich ein, wie entsteht Balance, wie reagiere ich auf Spannung?
Und sie hält die Beziehung zum Umfeld wach: Boden, Schwerkraft, Raum werden Teil des Empfindens.

Krishnamacharya und seine Schüler haben hier weiter differenziert:
Neue Zusätze wie Supta (liegend), Utthita (ausgedehnt), Parivṛtta (gedreht) erlauben feine Variationen und machen die Praxis dialogisch — der Körper hört zu und antwortet.

Philosophische Notiz

Die funktionale Benennung ist kein Schließen, sondern ein Öffnen der Wahrnehmung.
Wo ein Teil genannt wird, meldet sich sein Gegenüber: Vorder- und Rückseite, innen und außen, Boden und Raum.
So entsteht Ganzheit, und der Körper wird nicht zu einem Objekt, sondern zum lebendigen Erfahrungsfeld.

 Die präzise Benennung stellt Fragen – und durch Fragen erwacht Bewusstsein.


9. Haltungen des Loslassens & Todes
Integration · Hingabe
KategorieBeispiele (klassisch)Bedeutung / SymbolikErweiterungen
Loslassen & TodŚavāsana, Viparītakaraṇī, MakarāsanaIntegration, Hingabe, Regeneration; Muster dürfen sterben, Neues verankert sichRestorative Ansätze, therapeutische Umkehrungen, feine Entspannungsformen

Zwei Wege, eine Mitte – Abhyāsa & Vairāgya

Die Landkarte der Asanas zeigt viele Formen und Wege, doch Yoga ruht letztlich auf zwei Grundbewegungen:

  • Abhyāsa – das beständige, achtsame Üben
  • Vairāgya – das Loslassen, Nicht-Verhaftetsein, Ruhenlassen

Beide sind für den Körper und das Bewusstsein notwendig, damit Übung zu innerer Wandlung wird.

Im Abhyāsa entstehen neue, klarere Bewegungs- und Atemmuster.
Doch das Nervensystem bleibt zunächst in alten Bahnen geübt:
es hat eine „Rückstellkraft“ – eine Tendenz, zu bekannten Mustern zurückzukehren.
Wenn wir viel Ungünstiges getan haben, ist diese Rückkehr manchmal sogar hilfreich: der Körper erinnert sich an eine frühere, gesündere Spur.
Aber wenn wir neue, bessere Muster aufgebaut haben, brauchen diese Zeit und Ruhe, um wirklich verankert zu werden.

Hier kommt Vairāgya ins Spiel:
In Stille, in den Haltungen des Loslassens, können die neuen Muster sich setzen.
Das vegetative Nervensystem balanciert, Spannungen sinken, Integration geschieht.
Die Praxis wird von etwas Geübtem zu etwas Eingeprägtem.
Das Bewusstsein lernt, auch bei kleiner werdenden Reizen „im Boot zu bleiben“ – nicht sofort in alte Spannungsreaktionen zurückzufallen.

So entsteht jene innere Balance, die für Prāṇāyāma unabdingbar ist.
Ohne diese vorbereitende Integration bleiben Atemübungen oberflächlich; mit ihr können sie tief wirken, weil Körper und Nervensystem bereit sind.

 Abhyāsa schafft Wege, Vairāgya macht sie begehbar.
Erst in der Ruhe wird das Neue Teil von uns.


10. Bewegungs- & Richtungsbegriffe
Raum · Dynamik
KategorieBeispieleBedeutung / SymbolikErweiterungen
Bewegungs- & RichtungsbegriffeAdho Mukha, Utthita, Parivṛtta, Supta, PrasāritaRaum- und Dynamikangaben, die Grundformen lebendig machenVielfalt moderner Kombinationsnamen (z. B. Utthita Pārśvakoṇāsana, Supta Baddha Koṇāsana)

Vertiefung / Erfahrungsweg

Diese Zusätze sind wie Sprachinstrumente:
Sie machen aus einer reinen Form (Tādāsana, Trikoṇāsana) eine Erfahrung im Raum.
Das Sanskrit benennt nicht nur Körperteile, sondern auch Richtungen, Qualitäten, Dynamiken.

  • Adho Mukha – „mit Gesicht nach unten“: Perspektivwechsel, Erdung, Hinwendung zur Unterseite.
    Beispiel: Adho Mukha Śvānāsana (herabschauender Hund).
  • Utthita – „gestreckt, ausgedehnt“: Energie weitet sich, Raum entsteht, wie in Utthita Trikoṇāsana.
  • Parivṛtta – „gedreht, gewendet“: neue Blickrichtung, Verdrehung, Transformation; in Parivṛtta Pārśvakoṇāsana.
  • Supta – „liegend, ruhend“: dynamische Formen sinken in Ruhe zurück, z. B. Supta Baddha Koṇāsana.
  • Prasārita – „geweitet“: Verbreiterung, oft in Standhaltungen wie Prasārita Pādottānāsana.

Diese Qualifizierer wirken wie Wegmarken:
Sie sagen uns, wo der Körper sich im Raum befindet, wie eine Haltung sich entwickelt oder zurückzieht. Sie helfen, Feinheit und Bewegungsrichtung wahrzunehmen, nicht nur Position.

 Philosophische Notiz

Sprache ist hier nicht bloße Benennung, sondern Landkarte des Bewusstseins.
Ein Grundname wird durch solche Zusätze lebendig, weil er Dynamik und Raumbezug bekommt.
Das Sanskrit enthält dabei keine absolute Definition, sondern eine Einladung zur Erfahrung.
Wenn wir diese Begriffe üben, lernen wir auch, uns innerlich zu orientieren:
oben/unten, innen/außen, Weite/Drehung — das sind Bewegungen des Körpers und des Geistes.

Bewegungsbegriffe öffnen den Raum zwischen Wort und Wahrnehmung.
Sie machen Namen zu Anweisungen für das innere Erleben.


11. Zeit & Rhythmus
Moment · Welle · Stille
Beispiele / BezugBedeutung / SymbolikErfahrung im Üben
Aśvinī MudrāMoment, Präsenz, GleichgewichtAugenblicklicher Impuls ruft ins Jetzt, feiner Balancepunkt
Mūla Bandha, Uḍḍīyāna, NauliVorgang, Welle, ZyklusBeginn – Entwicklung – Lösung; Zeit als Kreislauf und Prozess
Prāṇāyāma (samavṛtti, viṣamavṛtti)Gestaltete Zeit im AtemGleichmaß, Verlangsamung, Beschleunigung, bewusste Rhythmusführung
Kumbhaka (Atemstille)ZeitlosigkeitStille als lebendiger Prozess, Integration und Verfeinerung

Vertiefung

Yoga arbeitet mit Zeitgestaltung:
Wir üben nicht nur Positionen, sondern lernen, Zeit bewusst zu dehnen, zu verdichten, anzuhalten.
Die Praxis der Bandhas und Mudrās führt vom spontanen Moment (Aśvinī) zu bewussten Zyklen (Mūla, Uḍḍīyāna, Nauli).
Im Prāṇāyāma wird Zeit formbar: Ein- und Ausatmung, Pausen, Wellen von Spannung und Entspannung.
So wird das Nervensystem vertraut mit Verlangsamung, ohne Angst, und bleibt in Präsenz.

Zeit wird nicht bekämpft, sondern durch Übung durchlässig und erlebbar.
Das Jetzt wird zum Anker, die Dauer zur inneren Bewegung.

Philosophische Notiz

Zeit ist im Yoga eine innere Qualität, keine äußere Uhr.
Wer die Zeit im Atem und in den subtilen Bewegungen erfährt, lernt, gegenwärtig zu bleiben, wenn die Reize kleiner werden.
Dies ist entscheidend für Prāṇāyāma und Meditation: Ohne geübte Zeitwahrnehmung fehlt der Boden; mit ihr öffnet sich eine stille, lebendige Gegenwart.

 


Zwei Wege, eine Mitte – Abhyāsa & Vairāgya

Alles Üben mündet in zwei Grundrichtungen:

  • Abhyāsa — stetiges, achtsames Üben
  • Vairāgya — Loslassen, Nicht-Anhaften, Ruhenlassen

Neue, gute Muster brauchen Ruhe, um ins Körpergedächtnis einzutreten. Die regenerativen Phasen verhindern ein automatisches Zurückfallen in alte Spannungen. So finden Aktivität und Stille Ausgleich, das vegetative Nervensystem harmonisiert sich.

Abhyāsa schafft Wege, Vairāgya macht sie begehbar. In der Stille wird das Neue Teil von uns und bereitet den Boden für Prāṇāyāma und Meditation.


Glossar – Sanskrit ⇄ Deutsch
Nachschlagen · Übersetzungen
 
SanskritDeutschHinweis
ĀsanaKörperhaltung, Yogapose 
PrāṇāyāmaAtemlenkung/-regulierung 
SamādhiVersenkung, Einung 
Mudrā„Siegel“, Geste/Technik 
BandhaVerschluss 
KumbhakaAtemstille/-anhalten 
Abhyāsabeständige Übung 
VairāgyaNicht-Anhaften 
Sthirafest, stabil 
Sukhaleicht, angenehm 
Utthitagestreckt/ausgedehntPräfix
ParivṛttagedrehtPräfix
Adho Mukhanach unten schauendPräfix
SuptaliegendPräfix
Prasāritaweit gespreiztPräfix
Eka Pādaein BeinKombi
RājaKönigKombi
KapotaTaubeKombi
PṛthvīErde 
ĀpasWasser 
AgniFeuer 
VāyuLuft/Wind 
ĀkāśaRaum/Äther 
PadmāsanaLotossitz 
SiddhāsanaSitz der Vollendeten 
SvastikāsanaGlückssitz (kreuzbeinig) 
Sukhasanabequemer/angenehmer Sitz 
MatsyāsanaFisch 
KukkuṭāsanaHahn 
BhujangāsanaKobra 
KurmāsanaSchildkröte 
GaruḍāsanaAdlermythischer Vogel
BhekāsanaFrosch 
GōmukhāsanaKuhgesicht 
ŚalabhāsanaHeuschrecke/Grashüpfer 
DaṇḍāsanaStabhaltunggestrecktes Sitzen
CakrāsanaRadRückbeuge/Rad
MayūrāsanaPfau 
NavāsanaBoot 
ParighāsanaQuerriegelSeitbeuge im Kniestand
Setu BandhāsanaBrücke 
VṛkṣāsanaBaum 
TādāsanaBerg 
Utthita Trikoṇāsanagestrecktes Dreieck 
Adho Mukha VṛkṣāsanaHandstandwörtl. „nach unten schauender Baum“
MatsyendrāsanaSitz des MatsyendraDrehsitz
VasiṣṭhāsanaPose des VasiṣṭhaSeitstütz
BhāradvājāsanaPose des BhāradvājaDrehung
KauṇḍinyāsanaPose des KauṇḍinyaArm-Balance
HanumānāsanaPose des HanumānSpagat
NatarājāsanaTanzender ŚivaBalance
AñjaneyāsanaAusfallschritt„Sohn der Añjanā“
Vīrabhadrāsana I–IIIKrieger I–III 
Ekapāda RājakapotāsanaEinbeinige Königstaube 
BhairavāsanaPose des Bhairava 
Paścimottānāsanasitzende Vorbeugeintensive Rückseiten-Dehnung
JānuśīrṣāsanaKopf-zum-Knie 
Baddha Koṇāsanagebundener Winkel„Schmetterling“
ŚīrṣāsanaKopfstand 
SarvāṅgāsanaSchulterstand„alle Glieder“
ŚavāsanaTotenstellungTiefenentspannung
Viparītakaraṇīumgekehrte Wirkung/Handlungsanfte Umkehr
MakarāsanaKrokodil-Haltung 
Utthita Pārśvakoṇāsanagestreckter seitlicher Winkel 
Supta Baddha Koṇāsanaliegender gebundener Winkel 
Aśvinī MudrāPferde-MudraBeckenboden-Impulse
Mūla BandhaWurzelverschlussBeckenboden
Uḍḍīyāna Bandha„aufwärts fliegender“ VerschlussBauchverschluss
NauliBauchwellenBauchmassage
samavṛttigleichmäßiger AtemrhythmusPrāṇāyāma
viṣamavṛttiungleiche AtemverhältnissePrāṇāyāma