„Dies ist der Begleittext zur Meditation über Gefühle. Bitte nimm dir zunächst Zeit, diesen Hintergrund aufmerksam zu lesen und zu verinnerlichen. Die eigentliche Meditationsanleitung findest du am Ende des Textes.“
Im Licht des Yoga Sutra und des Buddhismus
Gefühle sind ein zentraler Ausdruck des menschlichen Lebens. Im Yoga scheinen sie auf den ersten Blick nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich: Auch im Yoga sind Gefühle ein entscheidender Teil der Übungspraxis – als Ausdruck innerer Bewegungen und als Schlüssel zur Selbsterkenntnis.
Bereits im zweiten Sutra des Yoga Sutra (YS I.2) formuliert Patañjali das Ziel des Yoga:
yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ
„Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen des Geistes.“
Diese Bewegungen (vṛttis) umfassen nicht nur Gedanken, sondern auch Empfindungen und emotionale Reaktionen. Patañjali macht also deutlich: Gefühle sind Teil der geistigen Aktivität und damit auch Gegenstand der yogischen Übung.
In YS I.33 nennt er explizit vier Haltungen, die sich auf zwischenmenschliche Gefühle beziehen:
maitrī-karuṇā-muditopekṣāṇāṁ sukha-duḥkha-puṇya-apuṇya-viṣayāṇāṁ bhāvanātaś citta-prasādanam
„Durch das Kultivieren von Freundlichkeit gegenüber dem Glücklichen, Mitgefühl mit dem Leidenden, Mitfreude mit dem Tugendhaften und Gleichmut gegenüber dem Fehlerhaften wird der Geist klar.“
Diese Sutra stellt vier Herzensqualitäten vor, die im Buddhismus als die „vier Brahmavihāras“ bekannt sind. Mettā – liebende Güte, Karunā – Mitgefühl, Muditā – Mitfreude, Upekkhā – Gleimut (nicht Gleichgültigkeit) gehören zum Pfad der Befreiung.
Sie stellen eine Schulung der emotionalen Intelligenz dar – nicht durch Verdrängung, sondern durch bewusste Transformation der inneren Haltung.
Auch im zweiten Kapitel (Sādhana-Pāda) geht Patañjali konkret auf innere Hindernisse ein. In YS II.3 nennt er die fünf Kleshas (leidbringenden Affekte), die stark mit unheilsamen Gefühlen verknüpft sind:
avidyā-asmitā-rāga-dveṣa-abhiniveśāḥ kleśāḥ
„Unwissenheit, Ich-Verhaftung, Anhaftung, Abneigung und die Angst vor dem Tod sind die Ursachen des Leidens.“
Insbesondere rāga (Verlangen) und dveṣa (Abneigung) sind emotionale Reaktionen, die uns gefangen halten. Die yogische Praxis zielt darauf, sie bewusst zu erkennen und sich nicht mit ihnen zu identifizieren.
YS II.11 bietet ein Mittel zur Minderung dieser Kleshas:
dhyāna-heyās tad-vṛttayaḥ
„Ihre Aktivitäten (die der Kleshas) können durch Meditation aufgehalten werden.“
Hier zeigt sich: Yoga strebt keine Gefühllosigkeit an, sondern eine wache Unterscheidungskraft (viveka) im Umgang mit Gefühlen.
In der modernen Psychologie gilt: Gefühle sind Signale, die uns auf unsere Bedürfnisse hinweisen. Wut z. B. zeigt eine Grenzüberschreitung an; Angst warnt vor Gefahr; Freude deutet auf erfüllte Bedürfnisse hin.
Ein Gefühl wird dann problematisch, wenn wir uns mit ihm identifizieren: „Ich bin wütend“ ist etwas anderes als „Da ist Wut“. Patañjali betont genau diese Unterscheidung. In YS I.4 beschreibt er das normale Alltagsbewusstsein:
vṛtti-sārūpyam itaratra
„Ansonsten identifiziert sich das Bewusstsein mit seinen Bewegungen.“
Erst durch die Praxis lernen wir, inneres Erleben zu beobachten, ohne damit zu verschmelzen.
Auch der Buddhismus kennt keine Ablehnung von Gefühlen. In der Satipatthāna-Sutta – der Lehrrede über die „vier Grundlagen der Achtsamkeit“ – wird das achtsame Wahrnehmen von vedanā (Gefühlsqualität) als eigene Übung betont:
Vedanānupassanā: Das achtsame Verweilen bei angenehmen, unangenehmen oder neutralen Empfindungen.
Dabei geht es nicht um Analyse oder Bewertung, sondern um direkte, gegenwärtige Beobachtung: Wie fühlt sich das an? Wo im Körper zeigt es sich? Verändert es sich?
In der buddhistischen Psychologie sind Gefühle Teil der Geistesformationen (sankhāras) – gestaltende Kräfte, die durch Wiederholung geprägt werden. So wie im Yoga Prägungen (saṃskāras) genannt werden und Einfluss auf unser Handeln und Empfinden haben (YS II.12–13), betont auch der Buddhismus, dass Einsicht in diese Muster zu mehr Freiheit führt.
Manchmal passen unsere Gefühle nicht zur Realität – etwa wenn alte Verletzungen aktiviert werden. Dann reagiert das System nicht auf das Hier und Jetzt, sondern auf ein gespeichertes Muster. In YS II.16 wird deshalb betont:
heyaṁ duḥkham anāgatam
„Das zukünftige Leid ist zu vermeiden.“
Dazu braucht es viveka-khyāti, klares Unterscheidungsvermögen (YS II.26), das durch kontinuierliche Übung erwacht und die eigenen Reaktionsmuster transparent macht. Ziel ist, wie es YS II.11 und YS IV.27 formulieren, eine fortschreitende Befreiung von falscher Wahrnehmung – auch auf emotionaler Ebene.
Eine einfache Übung kann sein, sich zu fragen:
Welches Gefühl möchte ich heute bewusst einladen?
Statt nur darüber nachzudenken, wie wir uns fühlen sollten, geht es darum, zu erkennen, was wirklich da ist – und dann zu handeln. Yoga verbindet Reflexion, Körperbewusstsein und Handlungskompetenz.
Der Buddhismus nennt dies „heilsames Handeln“ (kusala kamma) – Handlungen, die aus einer klaren, mitfühlenden Geisteshaltung hervorgehen. Patañjali spricht im gleichen Sinn vom „inneren Frieden durch Unterscheidungskraft“ (viveka-khyāti-niḥśreyasa – sinngemäß in YS II.26–27).
… eine gute Zeit.
Dauer: ca. 20–25 Minuten
Willkommen zu dieser Meditation.
Heute lade ich dich ein, den inneren Raum deiner Gefühle zu betreten.
Einen Raum, in dem du dich selbst mit Achtsamkeit und Mitgefühl begegnen kannst.
Du brauchst nichts zu verändern, nichts zu erreichen.
Nur da sein – mit dem, was ist.
Finde eine bequeme Position – im Sitzen oder Liegen.
Spüre den Boden unter dir.
Er trägt dich.
Du darfst loslassen.
Lass deine Augen sanft schließen.
Atme ein. … Und wieder aus.
Ein. … Und aus.
Gib deinem Atem Raum.
Und deinem inneren Erleben.
Lenke deine Aufmerksamkeit auf deinen Körper.
Spüre die Berührungspunkte zur Erde.
Deine Sitzbeinhöcker … die Rückseite deines Körpers … deine Füße.
Einfach wahrnehmen.
Wie fühlt sich dein Körper heute an?
Gibt es Stellen, die sich weit anfühlen?
Oder eng, gespannt, kribbelnd, warm?
Bleibe mit deiner Aufmerksamkeit bei dem, was sich dir zeigt – ohne Urteil.
Du bist Beobachterin.
Ein stiller Gast in deinem eigenen Inneren.
Nun lade ich dich ein, den Raum deiner Gefühle zu betreten.
Gibt es ein Gefühl, das sich zeigen möchte?
Vielleicht Freude?
Vielleicht Müdigkeit … Unruhe … Dankbarkeit?
Oder ist da nur ein zarter Hauch – kaum greifbar?
Alles ist willkommen.
Was auch immer da ist – du brauchst es nicht zu benennen.
Aber du darfst es da sein lassen.
Du kannst innerlich sagen:
„Was da ist, darf da sein.“
„Ich bin bereit, es zu fühlen.“
Wenn du ein Gefühl spürst …
… kannst du ihm einen Namen geben?
Vielleicht ist es Wut.
Vielleicht Scham.
Vielleicht Traurigkeit.
Oder Ruhe.
Sag dir selbst, ganz leise:
„Da ist Wut.“
Oder: „Ich spüre Ruhe.“
Oder: „Ich weiß nicht, was es ist – aber es ist da.“
Du bist nicht dieses Gefühl.
Du beobachtest es.
Wie eine Welle im Meer.
Du bist das Meer.
Nun frage dich sanft:
Welches Bedürfnis steckt hinter diesem Gefühl?
Wenn du wütend bist … sehnst du dich vielleicht nach Schutz.
Wenn du traurig bist … vielleicht nach Verbindung.
Wenn du ruhig bist … nach Frieden.
Was möchte dir dein Gefühl sagen?
Was braucht es?
Was brauchst du?
Lass dir Zeit.
Du musst nichts wissen.
Höre einfach zu.
Wenn du das Gefühl und sein Bedürfnis benennen kannst,
nimm beides innerlich an.
Du kannst sagen:
„Danke, dass du mir gezeigt hast, was mir wichtig ist.“
„Ich höre dich.“
„Ich bin für mich da.“
Vielleicht spürst du, dass das Gefühl gehen möchte.
Vielleicht darf es noch bleiben.
Beides ist in Ordnung.
Du bist sicher.
Du bist verbunden.
Lass nun alles stiller werden.
Spüre den Atem …
… die Schwerkraft …
… den weiten Raum in dir.
Du musst nichts tun.
Du darfst einfach nur da sein.
Du bist getragen.
Du bist Bewusstsein.
Du bist Yoga.
(Stille)
Lass deinen Atem tiefer werden.
Spüre deinen Körper – ganz wach und lebendig.
Bewege sanft deine Hände … deine Füße … deinen Nacken.
Und dann – wenn du soweit bist –
öffne deine Augen.
Kehre zurück in den Raum um dich.
Du bist wieder da – vielleicht ein wenig klarer, verbundener, weicher.
Vielleicht möchtest du dich für diesen Moment bedanken.
Bei dir. Bei deinem Körper.
Bei deinem inneren Wissen.
Wenn du magst, notiere später dein Gefühl und das Bedürfnis, das du gespürt hast.
Vielleicht möchtest du eine Handlung daraus entstehen lassen.
Ein Anruf.
Eine Pause.
Ein Gespräch.
So wird aus Fühlen – Handlung.
Aus Handlung – Frieden.
Aus Frieden – Verbundenheit.
Danke, dass du heute dir selbst begegnet bist.
Yogawege – Ihr Yogastudio in Berlin, Potsdam und Brandenburg
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