In den letzten Jahren beobachte ich mit wachsender Sorge, wie Begriffe wie „Erleuchtung“, „Jetzt“ oder „Ichlosigkeit“ in spirituellen Kreisen verwendet werden – losgelöst von jedem systematischen Aufbau, von jeder fundierten Praxis. Bücher wie Jetzt – Die Kraft der Gegenwart von Eckhart Tolle sprechen direkt Menschen in existenziellen Krisen an, ohne ihnen einen methodischen Weg, eine ethische Grundlage oder psychische Stabilität zu vermitteln. Das kann gefährlich sein.
Ich schreibe diesen Text nicht aus Kritiklust, sondern aus Verantwortung. Aus der Erfahrung von über fünf Jahrzehnten Yoga- und Meditationspraxis. Und aus dem Wissen: Eine echte spirituelle Praxis braucht Tiefe, Aufbau und Menschlichkeit – keine Abkürzung.
Eine spontane Jetzt-Erfahrung ist nichts Besonderes. Viele Kinder leben in diesem Zustand, ohne dass man es als spirituell bezeichnen müsste. Erwachsene verlieren diesen Zugang nicht zufällig. Sie bilden ein Ich, eine Struktur, eine Unterscheidungsfähigkeit, die sie durch das Leben trägt. Diese Ich-Struktur einfach aufzulösen, ohne den Menschen vorbereitet und gestärkt zu haben, kann desorientieren oder sogar psychisch destabilisieren.
Doch was ist eine solche Erfahrung wert, wenn sie nicht gehalten werden kann? Wenn sie keinen inneren Halt bietet, keinen Weg, keine Orientierung? Wenn sie nicht integriert werden kann? Sie kann weder in die Tiefe geführt noch als Lehrerfahrung weitergegeben werden. Denn dazu muss ich die Natur des Menschen verstehen. Und meine eigene.
Der Yogaweg kennt solche Gefahren. Das Yoga Sutra des Patanjali beschreibt in klarer Systematik, dass Erkenntnis nicht plötzlich geschieht, sondern aus einem Aufbau hervorgeht: Ethik (Yama/Niyama), Körperarbeit (Asana), Atemführung (Pranayama), Rückzug der Sinne (Pratyahara), Konzentration (Dharana), Meditation (Dhyana), Einssein (Samadhi) – vgl. Yoga Sutra II.28–II.29 sowie II.27 für die sieben Stufen der Erkenntnis.
Die Hatha Yoga Pradipika (Kapitel 2, Verse 1–4) warnt ausdrücklich vor dem Üben von Pranayama ohne vorherige Reinigung des Körpers und mentale Stabilität. Die Gheranda Samhita beschreibt sieben aufeinander aufbauende Übungsschritte: Shodhana (Reinigung), Dridhata (Stabilität), Sthairya (Kraft), Dairya (Geduld), Laghava (Leichtigkeit), Dhyana (Meditation), Jnana (Erkenntnis) – vgl. Gheranda Samhita I.9.
Auch der Buddhismus warnt vor einer Leere ohne Mitgefühl. In der Lehre der vier Grundlagen der Achtsamkeit (Satipatthāna) steht das Gewahrsein von Körper, Gefühl, Geist und Geistesobjekten im Mittelpunkt – nicht das reine Auflösen des Ichs. Der tibetische Lehrer Chögyam Trungpa sprach von „spirituellem Materialismus“, wenn Leere zum Selbstzweck wird und die Schattenseiten des Geistes ignoriert werden.
Ich frage mich: Warum sprechen Sie nicht über diese Verantwortung, Herr Tolle? Warum zeigt Ihr Buch keinen Weg zur Integration, keine Anleitung zur Unterscheidung, keine Ethik? Sie schreiben von Bewusstsein, das aus dem Jetzt erwacht. Aber Sie sagen nichts über das Leiden der Menschen, die sich in Auflösung verlieren, weil ihnen die Erfahrung fehlt, sich selbst zu halten. Sie nennen das Ego eine Illusion. Ich nenne es eine notwendige Struktur. Eine Form, die uns trägt, bis sie gereift genug ist, sich freiwillig zu öffnen.
Ich schreibe diesen Text für all die Menschen, die nach Halt suchen und in spirituellen Ideen Orientierung hoffen. Für die Lehrerinnen und Lehrer, die wissen, dass das Jetzt kein Ziel ist, sondern ein Durchgang. Yoga ist kein Zustand. Yoga ist ein Weg. Und dieser Weg verdient mehr als schöne Worte.
Einordnung für meine Leserinnen und Leser
Dieser Text ist Teil einer Reihe von Reflexionen über verantwortungsvolle spirituelle Praxis, besonders im Kontext von Yoga, Meditation und psychischer Gesundheit. Die hier erwähnten Quellentexte sind:
Ich freue mich über Rückmeldungen, Fragen oder Austausch – besonders von Menschen, die mit diesen Themen im eigenen Leben oder im Unterrichten zu tun haben.
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