7-Stufen-Atemprogramm

Die Integration von Atem, Wahrnehmung und Bewusstsein

„Nun eine Atemsequenz, die den Atem von der natürlichen Atmung bis hin zu einer sehr feinen Wahrnehmungsebene führt.
Wir gehen schrittweise vor – ohne Leistungsdruck, ohne etwas zu erzwingen.
Der Atem zeigt uns den Weg.“

 

Stufe 1 – Wahrnehmung des Eigenatems (Manas beruhigen)

Ziel: Ankommen, den natürlichen Atem als Ausgangspunkt etablieren.

„Richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Atem, ohne ihn zu verändern.
Spüre, wie die Einatmung einströmt, wie die Ausatmung abfließt.
Nimm wahr, wo im Körper sich der Atem zeigt.
Beobachte einfach, was da ist.“

Erlaube Stille. Nicht eingreifen.

Inhalt:

  • Beobachten ohne Eingreifen.
  • Spüren der Zonen: Bauch, Brust, Rücken, Flanken.
  • Erste Harmonisierung von Manas (sammelnder Geist).
  • Grundlage der Sāṅkhya-Perspektive: Der Atem zeigt dir den aktuellen Zustand von Manas.

Wirkung:
Der Geist wird ruhiger, grobe Störungen im Citta treten in den Hintergrund, der Atem wird natürlicher.

 

Stufe 2 – Linearer, gleichmäßiger Atemfluss (Integration der Polaritäten)

Ziel: Rhythmus und Kontinuität schaffen.

„Beginne jetzt, die Einatmung sanft zu verlängern.
Die Ausatmung folgt in etwa im gleichen Umfang.
Gleiche Länge, gleiche Intensität.
Stell dir vor, der Atem wird zu einem ruhigen, gleichmäßigen Strom.“

Keine Spannung erzeugen. Gleichmäßigkeit ist wichtiger als Länge.

Inhalt:

  • Verlängerte, gleich lange Ein- und Ausatmung.
  • Kein Stau, keine Betonung.
  • Erste Verbindung der Polaritäten: Aktivität (Einatmung) – Ruhe (Ausatmung).

Yoga-Sutra II-50:
Desha – Kala – Samkhya (Ort, Zeit, Zahl) beginnen sich zu harmonisieren.

Wirkung:
Manas klärt sich, Buddhi (Unterscheidungsfähigkeit) beginnt sanft mitzuschwingen.

 

Stufe 3 – Der verbundene Atem (ohne Pausen)

Ziel: Vom dualen zum kontinuierlichen Atemfluss.

„Lass nun die kleinen Pausen zwischen Ein- und Ausatmung weg.
Am Ende der Einatmung beginnt ohne Verzögerung die Ausatmung.
Am Ende der Ausatmung hebt die nächste Einatmung sanft an.
Der Atem wird kreisförmig – ein ruhiger Fluss ohne Anfang und Ende.
Du atmest nicht mehr, sondern kontinuierlicher.“

Kein Pressen. Kein Ziehen. Die Übergänge sind jetzt das Wichtigste.

Inhalt:

  • Nicht die Atmung wird „gemacht“, sondern der Übergang.
  • Sanftes Verschmelzen der Switch-Punkte:
    • Ende Einatmung → Anfang Ausatmung
    • Ende Ausatmung → Anfang Einatmung
  • Kein Ziehen, kein Fallen – ohne Kraft.

Wirkung:
Die Atmung wird zu einem energetischen Zyklus.
Die ersten Saṃskāras (ewiger Kreislauf des Seins) können sich lösen, weil der Atem „durchfließt“.

 

Stufe 4 – Innere Konsolidierung & äußere Weite

Ziel: Der Atem wird energetisch „stromlinienförmig“ – klar, gebündelt, weit.

Einatmung – innere Konzentration, Sthira aus der Mitte

„Mit der Einatmung ziehst du die Aufmerksamkeit nach innen.
Nicht nach oben, nicht nach außen – sondern in die Mitte.
Hier entsteht Stabilität, ein ruhiger Tonus im Inneren des Körpers.“

Wie ein Licht, das sich nach innen verdichtet.

Ausatmung – äußere Weite, Sukham ohne Zerfall

„Mit der Ausatmung gibst du ab – nach außen, in den Raum.
Doch der Körper fällt nicht in sich zusammen.
Halte eine feine äußere Spannung,
eine Qualität von Weite, die den Raum stützt.“

Wie ein weiter Horizont, in dem du dich ausbreitest, ohne deine Form zu verlieren.

Der verbundene Atem als Brücke

„Mit jeder Einatmung entsteht innen Stabilität.
Mit jeder Ausatmung entsteht außen Weite.
Innen Sthira – außen Sukham.
Zwei Perspektiven, ein Prozess, ein einziger Atem.“

Einatmung → innere Stabilität (Sthira von innen)

Prinzip: Konzentration, Sammlung, Verdichtung.

  • Die Aufmerksamkeit zieht sich nach innen.
  • Ein innerer Tonus entsteht, ohne Härte.
  • Die Mitte wird ruhig, aufgerichtet, wach.

Energetische Wirkung:
Der Prāṇa steigt nicht unkontrolliert an – er konsolidiert sich.

Ausatmung → äußere Weite (Sukham im Raum)

Prinzip: Ausdehnung, Entlassung, Öffnung.

  • Die Ausatmung fließt weit in den Raum.
  • Der Körper fällt dabei jedoch nicht in sich zusammen.
  • Eine feine äußere Spannung hält die Form offen.

Energetische Wirkung:
Die Energie zerfällt nicht, sondern weitet und breitet sich aus.

Vereinigung beider Perspektiven

  • Innen entsteht Stabilität (sthira).
  • Außen entsteht Leichtigkeit/Weite (sukham).
  • Der Atem verbindet beide Felder zu einem einzigen Fluss.

Philosophische Bedeutung:
Dies ist die Erfahrungsebene von sthira sukham āsanam
nicht als Asana, sondern als Atemqualität, die die innere und äußere Dimension des Seins harmonisiert.

 

Stufe 5 – Kumbhaka verstehen (Übergangsräume kultivieren)

Ziel: Das Bewusstsein für die Räume jenseits des Atems schulen.

„Beobachte nun die kleinen Zwischenräume des Atems.
Nach der Einatmung entsteht ein Moment der Fülle.
Nach der Ausatmung ein Moment der Weite.
Bleibe nur dort, wenn dieser Moment von selbst entsteht.
Wir halten den Atem nicht an – wir erkennen nur die Übergangsräume.“

Diese Stufe nicht forcieren.

Inhalt:

  • Antara Kumbhaka (Atemhalten nach Einatmung):
    Wahrnehmen, dass dieser Moment energetisch schon Teil der Ausatmung ist.
  • Bahya Kumbhaka (Atemhalten nach Ausatmung):
    Spüren, wie der leere Raum bereits die nächste Einatmung anzieht.
  • Kurze, natürliche Kumbhakas entstehen lassen – nicht erzwingen.

Wirkung:
Buddhi (höhere Intelligenz)  wird geschult, die Polaritäten subtiler zu erkennen.
Man beginnt, den „Raum jenseits des Atems“ zu spüren.

 

Stufe 6 – Bahya Kumbhaka als Tor zur Ich-Auflösung

Ziel: Die Wahrnehmung in die subtilen Schichten führen.

„Lass die Ausatmung etwas weiter ausfließen.
Je weiter sie fließt, desto leichter wird der Körper.
Wenn am Ende der Ausatmung ein natürlicher Moment der Stille entsteht – bleib einen Augenblick dort.
Ohne zu warten. Ohne zu halten. Einfach anwesend sein.
In dieser Stille werden Wahrnehmungen weicher.
Vielleicht tritt der Atem in den Hintergrund.
Vielleicht wird das Sehen oder Hören leiser.“

Bahya Kumbhaka taucht hier als natürlicher Zustand auf – nicht als Technik.

Inhalt:

  • Ausatmung wird zum Weg des Loslassens.
  • Bahya Kumbhaka wird ohne Zwang betreten – nur wenn er natürlich entsteht.
  • Prozess der Wahrnehmungsauflösung:
  1. Atem – Fluss verschwindet
  2. Sehen – Trāṭaka-Qualität, Bild löst sich
  3. Hören – Nada taucht auf
  4. Denken – Bewegung des Geistes verlangsamt sich

Wirkung:
Ahaṅkāra löst sich partiell.
Die Identifikation wird durchlässig.
Dies bereitet den Boden für Yoga-Sutra II-51 – das „vierte Pranayama“.

 

Stufe 7 – Das „vierte Pranayama“ (caturtha) – Atem jenseits von innen und außen

Ziel: Der Atem wird zum Ausdruck reiner Präsenz.

„Lass den Atem so ruhig fließen, dass er kaum noch Gewicht hat.
Ein- und Ausatmung fühlen sich nicht mehr getrennt an.
Es entsteht ein einziger Fluss.
Der Atem wirkt von selbst.
Bleib wach, ruhig, präsent.
In diesem Zustand wird der Atem zum Ausdruck von innerer Stille – nicht zur Technik, sondern zu einem natürlichen Geschehen.“

Kein Ziel formulieren. Der Zustand zeigt sich von selbst.

Inhalt:

  • Der Atem wird nicht aufgehoben – er transzendiert die Dualität.
  • Spüren des Energieflusses ohne Betonung auf Ein oder Aus.
  • Verschmelzen von Innen und Außen:
    Die Grenze zwischen dem individuellen Atem und dem kosmischen Atem wird durchlässig.
  • Zustand tiefer Harmonie, ruhiger Wachheit.

 

Verbindung zu Samadhi:

  • Dies ist die Stufe, in der Dharana → Dhyana → Samadhi natürlich möglich werden.
  • Samadhi erscheint nicht als Ziel, sondern als natürlicher Zustand, der sich enthüllt, wenn die Polaritäten integriert sind.

 

Zusammenfassung der 7 Stufen

  1. Eigenatem beobachten
  2. Linearer Atem – Rhythmus
  3. Verbundener Atem – Kreis
  4. Innere Konsolidierung der Polaritäten
  5. Natürliche Kumbhaka – Übergangsräume
  6. Bahya Kumbhaka – Wahrnehmungsauflösung
  7. Caturtha – Atem jenseits der Dualität