Teil 1

Grenzen im Yoga und im Körper

Grenzen geben uns Orientierung – im Alltag wie auf der Yogamatte. Sie zeigen uns, wo wir Halt finden und wo wir loslassen dürfen. Im Yoga begegnen wir ihnen zuerst im Körper: Jede Haltung macht spürbar, wo Beweglichkeit vorhanden ist, wo Anstrengung beginnt und wo Atem und Aufmerksamkeit fließen oder stocken.

Dabei ist es weniger der Schwierigkeitsgrad einer Übung, der entscheidend ist, sondern ihre Intensität und Ausführung. Wir lernen, wie vielfältig eine einzige Asana erlebt werden kann: sanft oder fordernd, stabil oder fließend. So wird die Praxis zu einer feinen Gradwanderung – zwischen Mut und Vorsicht, Anstrengung und Hingabe.

Unsere Anatomie bildet die Grundlage dieser Erfahrung. Jeder Körper ist einzigartig, und doch tragen wir in uns die Spuren einer langen Entwicklungsgeschichte – von den ersten einfachen Lebensformen über Tiere bis zum Menschen. Diese Erinnerung lebt in jeder Bewegung, in jeder Haltung. Yoga kann uns helfen, diese Verbindung zu spüren und unsere Lebendigkeit tiefer zu verstehen.

Doch Grenzen zeigen sich nicht nur im Körper. Auch im Miteinander, in unseren Beziehungen und in unserer inneren Haltung begegnen sie uns. Vertrauen, Mitgefühl und die Fähigkeit, „Nein“ zu sagen, gehören ebenso dazu wie die Bereitschaft, sich selbst neu zu entdecken. Schon in der Asana-Praxis können wir all dies erleben – wenn wir achtsam spüren, wie wir mit unseren Grenzen umgehen.

Diese erste Einheit lädt ein, den Körper als Tor zur Erfahrung von Grenzen zu entdecken. In einer abschließenden Meditation vertiefen wir dieses Erleben: Wir spüren nach, wo unsere Grenzen heute liegen, und wie sie uns Orientierung, Klarheit und auch Freiheit schenken können.

Geführte Meditation: Bindhus als Orientierung – Grenzen erfahren und erweitern

Dauer ca 40 – 45 Minuten

  1. Ankommen und Erdung (5–6 Minuten)

„Setze dich bequem, die Wirbelsäule aufgerichtet, Füße oder Beine entspannt am Boden.
Schließe sanft die Augen.
Atme ein… und aus… Spüre dein Gewicht auf dem Untergrund.
Wandere mit der Aufmerksamkeit durch deinen Körper: Füße, Beine, Becken, Bauch, Brust, Schultern, Arme, Kopf.
Spüre, wo du Halt, Berührung, Widerstand wahrnimmst – das sind deine äußeren Grenzen.
Richte den Atem ruhig ein… und aus… und erkenne: Orientierung beginnt, wo du deine Grenzen bewusst wahrnimmst.“

  1. Hand-Bindhu – die periphere Grenze (6–7 Minuten)

„Öffne die Hände langsam… und schließe sie wieder.
Forme sanft Jnana-Mudra, Daumen berühren die Fingerkuppen.
Spüre die Mitte der Handflächen, den stabilen Punkt – das Hand-Bindhu.
Dies ist die greifbare Grenze: zwischen Körper und Raum.
Mit jedem Atemzug: leichtes Öffnen, sanftes Schließen, immer wieder zurück zum Bindhu.
Die Hände sind stabil, während die Bewegungen fließen.
Grenzen können sich dehnen und zurückziehen – du behältst die Orientierung in der Mitte.“

(Kurze Pause, 10 Sekunden, Atem beobachten)

  1. Ajna-Bindhu – mentale Klarheit (6–7 Minuten)

„Lenke die Aufmerksamkeit zur Stirnmitte, zwischen die Augenbrauen.
Hier liegt das Ajna-Bindhu, ein heller, klarer Punkt.
Beobachte Gedanken, Impulse, Bilder – ohne zu reagieren.
Das Bindhu bleibt ruhig – die mentale Grenze, die Orientierung schenkt.
Mit jedem Atemzug: erweitere die Wahrnehmung, ohne das Bindhu zu verlieren.
Du erkennst: Du entscheidest, was du aufnehmen möchtest, was nicht.
Ein bewusstes „Nein“ im Geist schafft Klarheit und inneren Halt.“

  1. Kanda-Bindhu – körperlich-energetische Stabilität (6–7 Minuten)

„Richte die Aufmerksamkeit in den Unterbauch oder das Becken.
Spüre die Basis deines Körpers, den Ursprung der Energie – das Kanda-Bindhu, rot leuchtend.
Fühle Muskeln, Knochen, Beckenboden, den Energiefluss.
Mit jedem Atemzug: sanfte Ausdehnung, Rückkehr zum Bindhu.
Erlebe, wie sich körperliche Grenzen erweitern, ohne inneren Halt zu verlieren.
Dies ist deine stabile Basis, auf der alles andere ruht.“

  1. Herz-Bindhu – emotionale Mitte (6–7 Minuten)

„Lege die Hände sanft auf den Herzraum.
Spüre Wärme, Puls, Atembewegung.
In der Mitte deines Brustkorbs liegt das Herz-Bindhu, die Mitte von Mitgefühl, Vertrauen, Balance.
Erlebe emotionale Grenzen: Nähe, Distanz, Selbstschutz.
Mit jedem Atemzug: sanfte Öffnung, Sammlung.
Grenzen erweitern heißt: sich einlassen, verbunden sein, und gleichzeitig stabil bleiben.“

  1. Das innere Netz der Bindhus (6–7 Minuten)

„Stelle dir vor, alle Bindhus – Hand, Kopf, Kanda, Herz – sind durch unsichtbare Fäden verbunden.
Mit jedem Atemzug spürst du den Fluss der Energie: oben nach unten, unten nach oben, Herz als Mitte.
Dies ist dein inneres Netz der Orientierung.
Grenzen sind flexibel – sie zeigen Halt und Sicherheit, sie sind Orientierungspunkte und Brücken zugleich.
Bleibe bei diesem Netz, spüre Stabilität, Klarheit und inneren Halt.“

  1. Spiegelung im Makrokosmos – Mond, Sonne, Herz-Bindhu und kosmisches Netz (8–9 Minuten)

„Öffne innerlich deinen Blick nach außen.
Stelle dir den Mond vor: ruhig, klar, kühl.
Sein Licht ist sanft, reflektierend – Klarheit und Beobachtung.
Spüre, wie das Licht des Mondes im Ajna-Bindhu widergespiegelt wird – innen = außen, klarer Geist.

Richte die Aufmerksamkeit auf die Sonne: hell, warm, kraftvoll.
Spüre ihre Strahlen im Bauch oder Herzraum, im roten Bindhu.
Innen = außen – Lebensenergie, Wärme, Vitalität.

Zwischen Mond und Sonne liegt der Raum, unendlich offen.
In deinem Herz-Bindhu verschmelzen die Qualitäten von Mond und Sonne: Ruhe trifft Energie, Klarheit trifft Wärme.
Hier entsteht Balance – die Verbindung von Mikrokosmos und Makrokosmos.

Stelle dir vor, dass alle Bindhus durch unsichtbare Fäden verbunden sind – ein inneres Netz.
Draußen: Mond, Sonne, Raum – das kosmische Netz.
Innen und Außen spiegeln sich: Stabilität, Orientierung, Freiheit.
Atme tief ein… und aus… spüre die Verbindung von Innen und Außen, die Einheit des Netzes.“

  1. Integration und Abschluss (3–4 Minuten)

„Kehre noch einmal zum Atem zurück.
Spüre alle Bindhus, verbunden als inneres Netz.
Grenzen geben Halt, Orientierung und die Möglichkeit zur bewussten Erweiterung.
Bleibe einige Atemzüge in der Stille.
Atme ein… und aus…
Öffne langsam die Augen.
Nimm die Erfahrung von stabilen, flexiblen Grenzen und kosmischer Einheit mit in deinen Alltag.“

 

Merkpunkte dieser Meditation:

  • Orientierung entsteht durch bewusstes Wahrnehmen der eigenen Grenzen.
  • Bindhus dienen als Marker für Stabilität, Halt und Ausdehnung.
  • Spiegelung nach außen macht Mikrokosmos und Makrokosmos erfahrbar.
  • Innen = Außen, Grenzen = Orientierung = Brücken.